Es war es noch nie.
Vielmehr war es von Anfang an ein Skandal, ein Schandfleck für die Religion.
Davon zeugt schon der älteste Hinweis auf das Christentum:
Ein Graffito, in Rom an eine Wand gekritzelt, wohl aus den Jahren 123 bis 126.
Darunter steht in griechischer Sprache:
„Alexamenos betet seinen Gott an.“
Dargestellt ist Alexamenos, wie er vor seinem Gott steht.
Dieser wird spöttisch als Esel gezeigt – ein Esel, der am Kreuz hängt.
Hier wird deutlich:
Schon in der Antike war nicht verständlich, was diese Christinnen und Christen da glaubten.
Wie kann man das Göttliche, das Mächtige, das Kraftvolle
an einem römischen Mordinstrument – dem Kreuz – erkennen?
Das ist doch Dummheit.
Das ist doch eine „Eselssache“.
Wie sollte man Gott im Kreuz erblicken und ihn anbeten?
Und ich glaube: Auch für uns heute ist das schwer zu verstehen.
Im berühmten Bibelvers Johannes 3,16 lesen wir:
Gott liebt die Welt. Ja, er liebt sie so sehr, dass er seinen eigenen Sohn hingab
und kreuzigen liess.
Das ist emotional schwer nachzuvollziehen.
Bei mir ruft es ein altes Gottesbild hervor:
Ein grimmiger alter Herr, beleidigt durch unsere Sünden,
fordert Wiedergutmachung.
Diese findet er im eigenen Kind.
Der Tod Jesu soll seinen Zorn besänftigen.
Weil er als Opfer stirbt, finden wir zu Gott.
So wird das Evangelium oft erzählt.
Doch für unsere Ohren ist das kaum eine gute Botschaft.
So zu denken, so zu fühlen,
scheint uns heute unmöglich.
Darin einen liebenden Gott zu sehen –
unverständlich.
Aber gibt es vielleicht eine andere Perspektive auf das Kreuz?
Scheint darin vielleicht doch mehr Liebe auf,
als unser modernes Herz zu fassen vermag?
Zu dieser Entdeckungsreise möchte ich euch einladen.
Inkarnation als Ausgangspunkt
Das Johannesevangelium denkt das Kreuz zunächst von der Inkarnation her.
Inkarnation bedeutet: In Jesus ist Gott in die Welt gekommen.
Das feiern wir an Weihnachten – dass Gott in Jesus Christus Mensch wurde.
Aber es gilt auch von unten her gedacht:
Jesus Christus ist ganz Mensch –
ein Mensch, der ins Göttliche aufgenommen wurde.
Ein Mensch so sehr auf Gott ausgerichtet,
dass Gott sich ganz in ihn hineingeben konnte.
Diese enge Verbindung von Gott und Mensch setzt das Johannesevangelium voraus:
„Nur einer ist in den Himmel hinaufgestiegen.
Es ist der, der auch vom Himmel herabgekommen ist: der Menschensohn.“ (Joh 3,13)
Und noch deutlicher im Johannes-Prolog:
„Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott,
und das Wort war Gott.“ (Joh 1,1)
„Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns,
und wir sahen seine Herrlichkeit,
die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater,
voller Gnade und Wahrheit.“ (Joh 1,14)
Wenn wir über Jesus Christus sprechen,
sprechen wir über den Ort,
die Person,
in der Gott und Welt,
Gott und Mensch
eins wurden – ungetrennt und unvermischt.
Gott am Kreuz
Das ist die Faszination:
In Jesus Christus erscheint uns mehr als nur Menschliches.
Hier ist Gott uns nah.
Hier ist Gott mit uns und für uns.
Wichtig ist dabei: Gott ist nicht getrennt von Jesus Christus –
auch nicht am Kreuz.
Das Bild vom grimmigen Gott,
der sich zurückzieht,
passt nicht zum Denken des Johannesevangeliums.
Wenn Jesus Christus am Kreuz stirbt,
verabschiedet sich Gott nicht.
Er schaut nicht von oben herab.
Er ist mittendrin.
Das ist die Herausforderung des Christentums,
sein zentrales Gewicht:
Auch am Kreuz sind Gott und Mensch vereint –
ungetrennt und unvermischt.
Das hat ungeheure Konsequenzen.
Brillant beschreibt es G. K. Chesterton:
„Am Kreuz hing nicht nur ein Mensch, der von Gott verlassen war;
am Kreuz hing Gott selbst, der von Gott verlassen war.
Und das ist ein Rätsel, das tiefer geht als alle Theologien.
Es ist die einzige Religion, in der Gott sich selbst atheistisch nennt.
[…]
Die Verzweiflung, die das Christentum kennt, ist einzigartig,
denn sie wurde selbst von Gott durchlebt.
Kein anderer Gott, keine andere Religion,
hat es je gewagt, die Gottverlassenheit ins Herz ihres Glaubens zu stellen.“
(The Everlasting Man, Teil II, Kap. 6)
Wenn wir Gott und Mensch in Jesus Christus am Kreuz zusammen denken,
dann wird das Kreuz zum Ort,
wo Gott selbst von Gott verlassen wurde.
„Eli, eli, lama asabtani?“
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Gott selbst erlebte Gottverlassenheit.
Jesus Christus fühlte sich atheistisch –
ohne Gott sein und leiden zu müssen.
Der Kern des Christentums
Und das ist der Kern des Christentums:
Nicht dass wir stark sind.
Nicht dass wir geistlich tief leben
und so die Distanz zu Gott überwinden –
durch Gebet, Fasten, Traditionen oder Rituale.
Nein.
Die christliche Botschaft lautet:
Gott kommt auf uns zu.
Er steigt hinab bis in den Tiefpunkt unserer Existenz,
hinein ins grösste Leiden und Versagen.
Dort, wo unser Glaube erlischt,
wo wir uns selbst von Gott verlassen fühlen,
im Tod selbst –
ist er gegenwärtig.
Und erstaunlich:
Gerade prominente Atheisten lassen sich von dieser Botschaft faszinieren.
Der Philosoph Slavoj Žižek sagt:
„Here you see the operation, your being abandoned by God is the very feature which unites you with God.”
„Hier siehst du den Vorgang: Dass du von Gott verlassen bist, ist genau das Merkmal, das dich mit Gott vereint.“
Žižek bleibt Atheist.
Aber er erkennt darin eine ungeheure Wahrheit.
Und für mich selbst ist das ein Schatz im Glauben:
In meiner grössten Schwäche,
in meinem tiefsten Zweifel,
dort, wo ich mich von Gott verlassen fühle,
weiss ich durch das Kreuz:
Gott ist da.
Mit mir, für mich – im tiefsten Abgrund.
So möchte ich Johannes 3,16 neu lesen:
Original (Luther 2017):
„Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab,
damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden,
sondern das ewige Leben haben.“
Neuinterpretation:
„Gott war so voller Mitgefühl und Mitleiden mit der Welt,
dass er sich in seinem Sohn selbst
in die Erfahrung des tiefsten Leids begab.
Damit jeder, der auf ihn vertraut, erkennt:
Am Tiefpunkt seines Lebens ist er nicht allein.
Nicht verloren, sondern gerade dort –
in grösster Gottverlassenheit –
ist Gott selbst gegenwärtig:
mit uns, leidend und liebend zugleich.“
Basis für den westlichen Sozialstaat
Dieses Mitleiden mit den Schwachen
prägte das Christentum von Beginn an
und wurde zu einem Grundpfeiler unserer sozialen Verantwortung.
In Menschen das Göttliche zu sehen,
war in der Antike nicht ungewöhnlich.
Jeder Kaiser verstand sich als Sohn Gottes.
Revolutionär war aber,
Gott im Schwächsten zu sehen.
Wenn Gott im Gekreuzigten gegenwärtig ist,
dann auch in allen Armen und Zerbrochenen.
So adoptierten Christinnen und Christen die ausgesetzten Kinder,
die Römer achtlos wegwarfen.
Wo andere Müll und Abschaum sahen,
sahen sie Gott.
Ein Beispiel von vielen,
das zeigt, wie unser Sozialstaat
im Kreuz wurzelt.
Persönliche Botschaft
Darin steckt auch für mich eine persönliche Botschaft:
Gott ist nicht dort, wo ich grosse Reden schwinge,
neue Projekte anstosse,
oder erfolgreiche Konfirmandenarbeit plane.
Er ist vielmehr dort,
wo ich an meine Grenzen stosse,
leide an mir selbst,
an der Institution,
und mich frage:
„Was kann dieser Glaube in unserer Zeit noch bewirken?
In welcher Sprache lässt er sich noch ausdrücken?“
Er ist dort, wo ich Menschen begleite,
wenn sie Abschied nehmen müssen von ihren Liebsten,
in ihrem grössten Schmerz, in der Erfahrung von Verlassenheit,
und in der Frage:
„Wie soll es weitergehen?“
Es gibt keinen Ort in dieser Welt – nicht einmal den Tod –,
an dem Gott nicht wäre und uns zuspricht:
„Ich bin mit dir. Mit dir und für dich.“
Amen.
Der vorliegende Text beruht auf einem Transkript der Predigt vom 14. September 2025 in der Kirche Bühl zum Predigttext Johannes 3,13–17. Er wurde ohne jegliche Unterstützung durch KI-Systeme – insbesondere beim Redigieren oder Formulieren – erstellt.