Die Kraft eines schwachen Glaubens

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Wir leben in kuriosen Zeiten.
Religion verstummt.
Die Gesellschaft wird religiöser.
Eine seltsame Spannung:
Der Glaube an Gott schwindet,
das Denken in absoluten Wahrheiten wächst.
Mit Inbrunst werden die eigenen Überzeugungen vertreten.

Glaubenskriege ganz ohne Gott?
Politik,
Ernährung,
Klima –
sind dies die neuen Glaubensfragen?
Die eigene Sicht erscheint absolut richtig.
Wer anders denkt –
moralisch abgewertet
oder gar ausgeschlossen.

Darum glaube ich,
wir brauchen nicht mehr,
sondern weniger,
keinen starken,
sondern
einen schwachen Glauben.
Was heisst das?
Antworten finden sich bei Lukas,
Kapitel 18, Verse 9–14:
das Gleichnis vom Zöllner und Pharisäer.

1. Zwei Ebenen der Geschichte

Erste Ebene: Zwei Arten des Glaubens

Zuerst
das Unmittelbare,
der Inhalt selbst.
Zwei unterschiedliche Glaubensformen,
zwei ungleiche Arten des Gebets.
Zwei Männer gehen in den Tempel, um zu beten.
Der Pharisäer spricht:

„Gott, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie die anderen Menschen – kein Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder Zolleinnehmer wie dieser hier. Zwei Tage in der Woche faste ich, und ich gebe den zehnten Teil von allem, was ich kaufe.“

Abseits. Still.
Der Zöllner.
Traut sich nicht, zum Himmel aufzublicken.
Schlägt sich an die Brust

„Gott, vergib mir! Ich weiss, dass ich ein Sünder bin.“

Zwei Arten, vor Gott zu stehen.

Der Pharisäer braucht Gott,
missbraucht Gott für sich selbst,
um sich absolut zu setzen –
eigenständig,
unangreifbar,
losgelöst von anderen.

Gott – Mittel zum Zweck,
um die eigene Position,
die eigene Ansicht,
den eigenen Lebensstil
als unantastbar richtig zu deklarieren.

Zurück bleibt er allein.
Besser als alle,
getrennt von allen.
Die Beziehung bricht,
zu Gott,
zum Mitmenschen.

Sein Glaube – ein abgeschlossenes System.
Gott wird relativ,
fassbar,
klein genug
für seine eigene Hosentasche.

Ein Gott,
zugeschnitten
auf die eigene Meinung,
die eigene Lebensform.

Anders der Zöllner.
Gott übersteigt
jedes Denken,
jede Gewissheit,
jede Lebensform.
Im Angesicht Gottes
begrenzt er sich selbst.

Nicht Gott,
er selbst wird relativ.
Relativ meint Relatio – Beziehung.

„Sei mir Sünder gnädig.“

Die Gnadenbitte öffnet.
Seine Haltung:
die der offenen Hand.
„Hilf mir,
beschenke mich,
ich brauche dich.“

Dieser schwache,
abhängige,
suchende Glaube ist paradox stark –
weil er Raum schafft für Beziehung.
Der Pharisäer lebt einen absoluten Glauben,
der Beziehungen zerstört.
Der Zöllner lebt einen relativen Glauben,
der Beziehungen ermöglicht.

Zweite Ebene: An wen Jesus die Geschichte richtet

Die zweite Ebene:
der Kontext der Geschichte.

„Einige der Leute waren davon überzeugt, dass sie gerecht vor Gott lebten. Für die anderen hatten sie nur Verachtung übrig. Ihnen erzählte Jesus dieses Gleichnis.“

Jesus spricht zur religiösen Elite,
kritisiert seinesgleichen,
weist sein eigenes Team zurecht.
Er kritisiert Religion – von innen heraus.
Dies wird oft übersehen.
Christentum ist Religionskritik.
Manche sagen, Marx und Co. brachten nichts Neues.
Schon die alten Propheten erhoben ihre Einwände.
Von Amos bis Jesus –
die Bibel ist eine wichtige Quelle für Glaubenskritik.
Dies ist eine Stärke des Christentums:
Die Kirche hat nicht nur die Aufgabe,
Glauben zu fördern,
sondern auch dessen Ausübung kritisch zu reflektieren.

Wichtiger Punkt,
gerade heute an diesem Taufsonntag.
Die Verpflichtung der Eltern,
ihr Kind in der christlichen Tradition zu erziehen,
beinhaltet die Glaubensvermittlung
und die Schulung in dessen Kritik.

Gehen wir weiter
zur Frage der Relevanz.

2. Relevanz für heute

Wo liegt die Bedeutung für heute?
Hierzu: ein spannendes Interview bei Sternstunde Religion.
Ich mag das Format.
Bernd Stegemann im Gespräch –
Dramaturg und Theaterwissenschaftler.
Er sagt:

„Der moderne Mensch führt Glaubenskriege, ohne an Gott zu glauben.“

Wir leben in einer säkularen Welt –
dennoch verhalten wir uns religiös.
Nicht, dass die Leute beten
oder gar in die Kirche gehen würden.
Es ist die Haltung:
Wir setzen Meinungen absolut
und erklären Andersdenkende zu Ungläubigen.

Diese Dynamik zeigt sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen.
Ohne den folgenden Beispielen ganz gerecht zu werden,
hier vier Themenfelder, die dies verdeutlichen:

  1. Die Bewegung der „Letzten Generation“.

    Das Anliegen,
    ein nachhaltiger Umgang mit Ressourcen,
    ist wichtig und richtig.

    Ihre Kommunikation
    trägt religiöse Züge.
    Der Name „Letzte Generation“
    ist eschatologische,
    endzeitliche Sprache.

    Die eigene Zukunftsvision ist definitiv,
    es gibt nur einen möglichen Verlauf.
    Wer dies anders sieht,
    liegt falsch,
    trägt die Schuld
    am unvermeidlichen Ende.

    Dialog mit Andersdenkenden
    wird schwierig,
    gar unmöglich.
    Nochmals: Ich verstehe das Anliegen,
    doch die verwendete Sprache sehe ich kritisch.

  2. Die politische Spaltung.

    In vielen Ländern,
    besonders in den USA,
    verhärten sich die Fronten:
    links gegen rechts,
    liberal contra konservativ.

    Die politische Haltung wird zum religiösen Bekenntnis:
    das eigene Programm – der Weg zum Heil.
    Der Präsident:
    der Messias oder der Teufel.
    Das eine oder das andere,
    je nach Partei.
    Doch beide Seiten stehen im Extrem.
    Es geht nicht um die Sache,
    sondern um Treue zum Lager.
    Der Diskurs stirbt,
    Zusammenarbeit ausgeschlossen,
    denn beide Seiten setzen ihre Wahrheit absolut.

  3. Der Nahostkonflikt.

    Das Thema ist heikel.
    Wir sehen zwei Flaggen:
    Palästina und Israel.
    In uns regen sich Emotionen.
    Wir sind mitten im Konflikt.
    Egal, wo wir stehen –
    wenn wir die eine oder die andere Flagge sehen,
    spricht wahrscheinlich der innere Pharisäer:

„Wie kann man nur!
Gott sei Dank bin ich nicht wie diese Leute.“

Auch hier:
Ich teile das Anliegen.
Völkermord und Terrorismus sind zu verurteilen.
Doch bei jedem Streit gilt:
religiöse Haltung ist destruktiv.
Nie kämpfen reine Gute gegen absolut Schlechte.
Alle tragen Schuld.
Beide haben Gründe.

  1. Ernährung und Lebensstil.

    Essen.
    Ich liebe es
    und geniesse es.
    Doch auch hier spriesst das Religiöse.
    Ernährung kann moralische Kategorie sein.
    Vegan ist der Weg zur Gesundheit.
    Das Heil liegt in der richtigen Diät.
    Und so kann Nahrung trennen.
    Gemeinsames Essen,
    Austausch und Beziehung
    werden so schwierig.

Was nun?
Neben der Diagnose findet sich bei Bernd Stegemann auch ein Lösungsansatz:

„Nur wenn wir anerkennen, dass unsere Ansprüche kein göttlicher Wille sind – wenn wir die Demut dem Bescheidwissen vorziehen –, können wir die Welt bewahren oder sogar besser machen.“

Mich erinnert dies an den Zöllner.
Ein relativer, schwacher Glaube,
der die Gesellschaft offen hält.
Wer seine Überzeugung relativiert,
wer Demut übt,
dem anderen zuhört,
der baut Brücken –
und rettet damit das,
was uns verbindet.

3. Zwei Anwendungen im Alltag

Wie kann das konkret aussehen?
Diese Predigt kann ich nicht von anderen einfordern.
Sondern nur auf mich und meine Bubble anwenden.

  1. Differenzierte Selbstkritik üben.

    Ich möchte mich in differenzierter Selbstkritik üben.
    Es liegt eine Kraft darin,
    die eigene Position zu hinterfragen,
    Kritik am eigenen Lager zu üben.

    Die Menschen,
    die die Grenzen und Schwächen,
    die Fehler und Sünden
    bei sich selbst
    und im eigenen System kennen und benennen,
    das sind die wichtigen Stimmen unserer Zeit.
    Konservative, die rechte Übertreibungen erkennen.
    Linke, die um die eigenen Abgründe wissen.
    Israelis, die Missstände in Israel ansprechen.
    Palästinenser, die den eigenen Umgang mit Gewalt thematisieren.
    Umweltaktivistinnen, die um die Schwierigkeiten einer radikalen Umweltpolitik wissen.

Paradox:
Diese Stimmen schwächen ihr Anliegen nicht.
Im Gegenteil:
Wer die eigenen blinden Flecken kennt,
um die Schwächen seiner Position weiss,
ist glaubwürdiger und reifer.
Hier zeigt sich, wer sein Gebiet wirklich beherrscht.

  1. Einen „schwachen Glauben“ leben.

    Zweitens
    möchte ich mich
    in einem „schwachen“
    bzw. „relativen“ Glauben üben.

    Was meine ich damit?
    Das schwache Denken von Gianni Vattimo erklärt es:

„Aus dem schwachen Denken ergibt sich auch eine bestimmte Haltung anderen gegenüber: Weil ich mir meines Seins und der Welt nicht sicher bin, höre ich zu und komme ins Gespräch, statt Letztbegründungen und Wahrheiten zu verkünden. Mit dieser Haltung kann ich in einer pluralistischen Gesellschaft leben.“

Diese Haltung wünsche ich mir.
In aller Selbstüberzeugung
die eigene Position,
das eigene Sein
offen halten,
relativ zu sein –
im Sinne von:
Raum schaffend
für andere und ihre Sicht.

Dies ist für mich gelebtes Christentum –
aus zwei Gründen.

Erstens verkünden wir
einen allumfassenden
und dabei
unfassbaren Gott.
Gott übersteigt jede Position,
ist grösser als jedes Denken
und Sprechen.
Kann Gott nie erfasst werden,
ist er immer mehr als meine eigene Perspektive.
Folglich:
Gott ist immer auch beim anderen zu finden.
Auch der,
der ganz anders denkt,
hat mir etwas zu lernen.

Zweitens:
In Jesus Christus zeigt sich Gott
als der, der sich selbst zurücknimmt,
sich beschränkt,
um Raum zu schaffen für andere.
In Jesus Christus begrenzt sich Gott,
relativiert sich Gott.
Darin,
in Jesus Christus,
liegt die Grundlage zur Gottesbeziehung
und zur Beziehung zu unseren Mitmenschen.

Darin liegt die Kraft eines schwachen Glaubens.
Er könnte die Grundlage zu einer gesunden und pluralen Gesellschaft sein.

Amen.

Die Inhalte dieses Beitrags basieren auf einer mündlich gehaltenen Predigt am 26.10.2015. Sie wurden mithilfe eigener Notizen und unter Einsatz von KI-gestützten Schreibwerkzeugen verschriftlicht und redaktionell überarbeitet.

Du willst genau wissen was das heisst? Hier findest du den gesamten Chatverlauf als PDF: https://christiangfeller.org/wp-content/uploads/2025/11/Dok10-1.pdf

Was, wenn das Pendel zurückschlägt?

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Punkto Glaube und Kirche bewegt sich etwas in der Gesellschaft. Die aktuellen Meldungen sind bemerkenswert: Junge Menschen zeigen vermehrt Interesse am christlichen Glauben und an der Kirche. So liessen sich etwa in der Osternacht 2025 in Frankreich rund 18’000 Menschen in der katholischen Kirche taufen[1], in Grossbritannien berichten Medien über stark steigende Bibelverkäufe[2], und in Schweden wird gar von Jesus Christus als „einflussreichstem Influencer“ gesprochen.[3]

Auch hier in Zürich höre ich von Pfarrkolleginnen und -kollegen, dass sich Jugendliche für den Glauben interessieren. Selbst erlebe ich, wie sich einzelne Jugendliche eigenständig für den Konfirmationsunterricht anmelden oder sich nach der Erwachsenentaufe erkundigen.

Als Pfarrer freue ich mich über diese Entwicklung. Ich bin überzeugt, dass der christliche Glaube eine wichtige Ressource für ein gelingendes Leben und eine gesunde Gesellschaft ist. Entsprechend begrüsse ich ein wachsendes Interesse junger Leute an dieser Quelle des Lebens.

Gleichzeitig sehe ich in dieser Entwicklung auch eine Gefahr. Ich frage mich, ob die Kirche und religiöse Gemeinschaften gut damit umgehen werden. Falls nicht, befürchte ich, dass das Pendel bald wieder zurückschlägt. Was meine ich damit?

Warum jetzt dieses Interesse?

Suchen wir zuerst nach Erklärungen für dieses neue Religionsinteresse. Folgende These erscheint mir plausibel: Wir leben in Zeiten grosser Freiheit. In der Postmoderne findet das Ideal, sich von allem zu lösen – Normen, Traditionen, Autoritäten – seinen Höhepunkt. „Richtig“ ist, was ich für mich als stimmig definiere. Diese Freiheit birgt enorme Chancen: individuelle Selbstbestimmung, Kreativität, Vielfalt. Besonders dann erlebe ich sie als bereichernd, wenn ich mich von strikten Regeln, Traditionen und Vorgaben emanzipieren kann. Ein anderes Gefühl weckt diese Freiheit jedoch, wenn ich auf einer „leeren Wiese“ mit ihr konfrontiert werde. Wenn ich nichts als diese Freiheit kenne, kann ich sie als belastend erleben: Entscheidungsdruck, Orientierungslosigkeit, Sinnleere.

Der Psychologe Barry Schwartz bezeichnet dies als Paradox of Choice: Wenn ich zu viele Möglichkeiten habe, wächst die Angst, mich falsch zu entscheiden. Wahlmöglichkeit wird zur Überforderung – die Freiheit zur Last.

In einer solchen Lage fragen viele Jugendliche: „Kann mir nicht etwas oder jemand Orientierung schenken? Wer hilft mir, mich zu entscheiden? Gibt es Werte, die mir sicher zeigen, was richtig und was falsch ist?“
Für solche Fragen haben Kirche und Religion definitiv Antworten parat: Gemeinschaft, Geschichte, Verbindlichkeit, Orientierung. Kein Wunder, dass insbesondere traditionelle Formen mit klaren Strukturen und Ritualen – wie die katholische Kirche – derzeit besonders an Attraktivität gewinnen: Sie stehen nicht nur für Freiheit, sondern auch für Halt und Klarheit.

Der christliche Glaube bietet kein zeitloses Wertesystem

Das steigende Interesse an Religion könnte also so erklärt werden: In Zeiten von Unsicherheit, Orientierungslosigkeit und gesellschaftlichen Umbrüchen sehnen sich viele nach klaren Regeln und festen Werten. Sie schenken Stabilität, Sicherheit und Halt – und sie können die Angst lindern, die mit der Freiheit eigener Entscheidungen einhergeht. Denn Freiheit bedeutet immer auch Verantwortung. Und Verantwortung kann überfordern.

Wie gehen wir nun als Kirche und als Christinnen und Christen mit dieser Sehnsucht um? Es gibt Stimmen, die sagen: Endlich findet die Jugend zurück zur Wahrheit. Endlich wird erkannt, dass die wichtigen Dinge nicht individuell wählbar sind und schon gar nicht von unseren Gefühlen und Vorlieben abhängen. Es gibt zeitlose Wahrheiten, die immer und für alle gelten.[4]

Tatsächlich – manches ist universell gültig. Das Schachspiel funktioniert seit Jahrhunderten nach denselben Regeln, und der Satz des Pythagoras bleibt wahr, egal in welcher Epoche oder Kultur. Diese Ordnung hat etwas Tröstliches: Sie vermittelt Verlässlichkeit.

Doch der christliche Glaube ist keine mathematische Formel und kein magisches Regelwerk, das man nur auswendig lernen müsste, um das Leben zu „lösen“. Der christliche Glaube bietet kein zeitloses Wertesystem. Der Kern des Glaubens ist Beziehung – zu Gott, zu mir selbst, zu anderen Menschen. Und Beziehungen sind nicht statisch und sie sind nicht delegierbar. Ich kann nicht für jemand anderen Ehe oder Freundschaft leben, und genauso kann ich nicht für andere beten, glauben oder ethische Entscheidungen treffen. Beziehung braucht persönliche Auseinandersetzung, Zustimmung, Emotion und Beteiligung. Wer glaubt, kann nicht einfach übernehmen – er muss sich selbst auf seinen Glaubensweg machen.

Gerade darin liegt die Spannung: In einer Zeit, in der wir es gewohnt sind zu konsumieren – Produkte, Meinungen, auch Sinnangebote –, kann man leicht in die Versuchung geraten, auch Glauben zu konsumieren. Man nimmt ihn an, weil er Sicherheit verspricht. Regeln und Werte geben Orientierung – und sie entlasten, weil ich nicht ständig neu entscheiden muss.

Doch genau das kann gefährlich werden, wenn dieser Schritt zu schnell oder zu unreflektiert geschieht. Wer sich an klare Strukturen klammert, um die Last der Freiheit loszuwerden, läuft Gefahr, die Inhalte nur äusserlich zu übernehmen. Ich kann Regeln befolgen, ohne sie innerlich verstanden zu haben. Ich kann Mitglied einer Gemeinschaft sein, ohne ihre zentralen Überzeugungen persönlich nachzuvollziehen. Ich kann glauben, ohne je gefragt zu haben: Warum eigentlich?

Wer Regeln übernimmt, ohne ihr Warum zu kennen, macht sie leicht zum Selbstzweck. Dann wird die Regel zum Ziel – statt zum Werkzeug. Gute Regeln haben aber immer einen Sinn. Eine rote Ampel ist kein Selbstzweck – sie ist da, damit ich nicht überfahren werde. Wenn jedoch eine rote Ampel an einer Strasse steht, auf der nie ein Auto vorbeifährt, macht es irgendwann keinen Sinn mehr, sie zu beachten.

So ist es auch im Glauben: Wenn ich nicht investiere, den Sinn und Zweck hinter Werten, Geboten und Traditionen zu verstehen, bleiben sie leer. Früher oder später – spätestens bei der nächsten Generation – wird die Frage auftauchen: Wozu eigentlich? Und wenn es hier keinen Raum zum Hinterfragen und zur Selbstreflektion gibt, werden Regeln nicht mehr als Orientierung erlebt, sondern erneut als Gefängnis, aus dem es gilt, auszubrechen.

Darum braucht es die persönliche Auseinandersetzung: das eigene Warum. Nur wer versteht, kann auch tragen. Nur wer Sinn erkennt, kann Regeln mit Überzeugung leben. Und nur wer selbst Verantwortung übernimmt, wird Freiheit nicht als Last, sondern als Geschenk erfahren.

Die Versuchung der Kirche

Der Prophet Jeremia beschreibt in Kapitel 31 einen neuen Bund, den Gott mit den Menschen schliesst. Dieser Bund unterscheidet sich grundlegend vom alten: Das Gesetz wird nicht mehr von aussen vermittelt, nicht mehr über Mittler wie Mose, sondern direkt ins Herz der Menschen geschrieben. Es ist ein innerer, persönlicher Überzeugung – kein System, das man einfach übernehmen kann, sondern eine Beziehung, die wächst.

Gerade hier liegt für die Kirche – und besonders für uns als geistlich Verantwortliche – eine grosse Herausforderung. Wenn junge Menschen heute wieder nach Sinn, Glauben und Orientierung fragen, ist die Versuchung gross, ihnen wie Mose entgegenzutreten: „Komm zu mir – ich sage dir, was richtig und falsch ist. Ich nehme dir die Last der Entscheidung ab. Folge meinen Regeln, dann findest du Ruhe für deine Seele.“
Das klingt fürsorglich, ist aber gefährlich. Denn wer anderen ihre Verantwortung abnimmt, nimmt ihnen zugleich die Möglichkeit, den Glauben zu verinnerlichen.

So entsteht kein lebendiger, tragender Glaube, sondern ein gelernter, äusserlicher. Ein Glaube, der so lange hält, wie die Autorität stark bleibt – und der bricht, sobald sie hinterfragt wird. Das Pendel schlägt dann unweigerlich zurück. Menschen übernehmen Regeln, die nicht ihre eigenen sind, und verlieren irgendwann das Interesse.

Der neue Bund, von dem Jeremia spricht, ist jedoch von anderer Qualität. Hier wird das Gesetz ins Herz geschrieben – also in die Mitte der Persönlichkeit, dort, wo Verstand, Gefühl und Wille zusammenkommen. Glaube wird nicht mehr auferlegt, sondern eingeübt. Er wird Teil des Lebens, innerlich verankert, erfahrbar.

Ein gutes Bild dafür ist die Musik: Wer ein Instrument lernt, übt zunächst mühsam die Regeln – Noten, Tonleitern, Griffe. Doch mit der Zeit werden diese Regeln verinnerlicht. Irgendwann spielt man frei, improvisiert, und die Musik wird Ausdruck des eigenen Inneren. Nicht, weil man die Regeln vergessen hätte, sondern weil man sie verstanden und in Fleisch und Blut überführt hat.

So ähnlich ist es auch mit dem Glauben. Wer lernt, im Dialog mit Gott zu leben – in der Auseinandersetzung mit der Bibel, im Gebet, in der Gemeinschaft –, entdeckt nach und nach, wie Freiheit und Orientierung zusammengehören. Nicht als Gegensätze, sondern als Spannungsfeld, in dem sich reifer Glaube bewegt.

Mein persönliches Fazit

Ich wünsche mir, dass wir als Kirche junge Menschen auf genau diesen Weg mitnehmen – nicht, indem wir ihnen die Last der Freiheit abnehmen, sondern indem wir sie begleiten, die Freiheit, ihr Leben und ihren Glauben verantwortlich zu gestalten. Wir können ihnen helfen, Wege zu finden, wie sie selbständig, reflektiert und ehrlich glauben lernen.

Dieser Weg befreit nicht von der Last der Freiheit. Aber er zeigt, dass Freiheit und Glaube sich nicht ausschliessen. Im Gegenteil: Der Glaube befreit dazu, diese Freiheit bewusst zu leben.

Darin liegen die Schönheit und die Herausforderung des christlichen Glaubens: dass Gott nicht Kontrolle sucht, sondern Beziehung. Und dass er uns zutraut, mit ihm im Gespräch zu bleiben – mit Kopf, Herz und Händen.

Ich glaube, wir leben in einer unglaublich spannenden Zeit. Denn dieser Glaube – ein persönlicher, verantworteter, freier Glaube – ist vielleicht gefragter als je zuvor.


[1] https://cathnews.com/2025/04/14/france-to-see-a-record-17800-catechumens-baptised-at-easter/

[2] https://www.e-n.org.uk/uk-news/2025-04-bible-sales-soar-in-the-uk

[3] https://www.citychurch.ee/will-jesus-be-swedens-most-popular-influencer-in-2025/

[4] Mit dieser Sichtweise argumentierte Johannes Hartl an der ICF-Konferenz 2025. Der vorliegende Blogbeitrag versteht sich als reflektierte und kritische Weiterführung seiner Überlegungen. Sein Vortrag ist hier zu finden: https://www.youtube.com/watch?v=l5EE2J5fBik

Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit KI-gestützten Werkzeugen. Der Autor hat Inhalte, Struktur und Formulierungen eigenständig konzipiert und redaktionell bearbeitet.