Über Authentizität und den Einsatz von KI

Zuerst: Dieser Text ist ein Gemeinschaftswerk. Ich hatte beim Schreiben Unterstützung durch ChatGPT. Die KI hat mir geholfen, eine ansprechende Überschrift zu finden, Inhalte zu strukturieren, zu redigieren und weiterzuentwickeln, die Rechtschreibung zu prüfen – und ja, sie hat mir auch ganze Absätze vorgeschlagen.

Warum ich das so offen erwähne? Weil mir Transparenz wichtig ist. Für die meisten gehört Künstliche Intelligenz längst selbstverständlich zum Schreiballtag. Sie ist kein „Geheimtrick“ im Hintergrund, sondern ein Werkzeug, das kreative Prozesse unterstützt, beschleunigt und neue Perspektiven eröffnet. Gerade beim Verfassen von Texten, die Substanz und Klarheit brauchen – wie etwa Predigten – kann das eine wertvolle Hilfe sein.

Doch damit stellt sich sofort die Frage nach der Authentizität: Kann ein Text noch „echt“ sein, wenn er nicht ausschliesslich von der Autorin oder dem Autor selbst stammt? Im Pfarrberuf spitzt sich diese Frage besonders zu. Je nach Frömmigkeitsstil wird erwartet, dass Predigten aus der persönlichen Ergriffenheit der Rednerin oder des Redners erwachsen. Unter diesem Anspruch wirkt der Einsatz von KI wie ein klares «No-Go».

Als Leserinnen und Hörer gehen wir meist selbstverständlich davon aus, dass die Worte direkt und unvermittelt aus der Person stammen, die sie ausspricht. Erfahren wir, dass eine Maschine mitgeschrieben hat, fühlen wir uns schnell getäuscht – als sei der Text weniger menschlich und damit weniger glaubwürdig. Unser Urteil ist dabei oft schwarz-weiss: Entweder 100 % „vom Autor“ und damit authentisch, oder durch KI beeinflusst und damit unecht.

Dieses binäre Verständnis macht Authentizität zu einem sehr engen, beinahe einsamen Konzept. Authentisch ist dann nur, wer ausschliesslich sich selbst entspricht und völlig unabhängig von äusseren Einflüssen schreibt. Doch schon die Entstehung der Bibel zeigt, dass inspirierende Texte vielschichtiger entstehen: Der Mythos, eine einzelne vom Geist Gottes ergriffene Person habe einen Text in einem Zug niedergeschrieben, hält für die meisten Schriften nicht stand. Kaum ein biblisches Buch entstand als spontaner Einfall einer einzigen Person. Vielmehr sind die Texte über lange Zeiträume hinweg von verschiedenen Autorinnen und Autoren verfasst, überarbeitet, redigiert und erweitert worden. Oft flossen unterschiedliche Quellen zusammen, bis schliesslich die Gestalt entstand, die wir heute in unseren Händen halten.

Auch meine Predigten und Texte entstehen in einem Prozess. Ich versuche nicht, mein Innerstes so „unmittelbar“ wie möglich auszudrücken, sondern Ausdrucksformen des christlichen Glaubens zu finden, die in unserer Zeit hilfreich sind. Dafür nutze ich Quellen, die Inhalte besser und tiefer durchdacht haben als ich allein. Neben Büchern und dem Internet gehört heute auch KI dazu. Meine eigentliche Leistung liegt darin, Gedanken zu kombinieren, zu strukturieren und in eine lebendige Rede zu verwandeln.

Meist predige ich frei. Grundlage ist ein stichwortartiges Manuskript, ergänzt durch Präsentationsfolien. Dabei entstehen viele Formulierungen erst im Sprechen selbst – das vorbereitete Skript und die tatsächliche Predigt sind nie völlig deckungsgleich. Wenn ich anschliessend einen Blogbeitrag daraus machen möchte, braucht es deshalb Nacharbeit. Hier nutze ich KI besonders stark: Ich füttere sie mit meinen Notizen, bearbeite den entstehenden Text und lasse ihn danach nochmals verdichten und straffen, um ihn abschliessend selbst zu redigieren.

Natürlich birgt das Risiken: Zum einen könnte ich mich zu sehr auf die Formulierung durch KI verlassen und so meine eigenen sprachlichen Fähigkeiten verkümmern lassen – ähnlich wie beim Kartenlesen, das wir verlernen, wenn wir nur noch dem Navi folgen. Zum anderen besteht die Gefahr, dass meine Texte den typischen „ChatGPT-Sound“ annehmen und mein eigener Stil verloren geht.

Gleichzeitig sind die Vorteile nicht zu übersehen: Meine Texte sind sprachlich runder, die Rechtschreibung ist zuverlässiger, und vor allem bin ich schneller. Ohne diese Unterstützung würde die Arbeit deutlich mehr Zeit beanspruchen – Zeit, die ich als Vater kleiner Kinder und im Berufsalltag schlicht nicht habe. KI ermöglicht mir also, überhaupt regelmässig zu schreiben und Predigten zugänglich zu machen.

Deshalb lege ich Wert auf Transparenz. Ich erkläre, wie meine Texte entstehen und in welchem Mass KI daran beteiligt ist. Denn Authentizität bedeutet für mich nicht, völlig ohne Hilfsmittel zu schreiben, sondern ehrlich Verantwortung für Inhalte, Aussagen und Entstehungsprozesse zu übernehmen.

Am Ende bin ich überzeugt: Ein Text ist nicht dadurch authentisch, dass er ausschliesslich aus der „Feder“ einer einzelnen Person stammt. Authentizität zeigt sich vielmehr darin, ob die Worte glaubwürdig wirken, etwas Wahres transportieren und für die Lesenden oder Hörenden relevant sind. KI kann mich unterstützen – aber sie ersetzt nicht meine Stimme, meine Haltung und mein theologisches Ringen. Diese Verantwortung bleibt bei mir, und genau darin liegt die Echtheit meiner Texte.

Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit KI-gestützten Werkzeugen. Der Autor hat Inhalte, Struktur und Formulierungen eigenständig konzipiert und redaktionell bearbeitet.

Hineni – ein Preacher Slam über das Ringen mit mir selbst: Soll ich die Reise in den Pfarrberuf wirklich wagen?

Zu später Stunde noch zieht es fort
Gottes Volk weg vom modernen Ort

Die Zeit verrinnt
Die Fluten steigen
Der Weg beginnt
Die Schritte schweigen

Um so später um so mehr
Die Moderne ist eine Reise
– im weiten Meer

Verwischt die Spuren derer, die voraus gingen
verwässert die Schritte, die meine schienen

Unsicher frag ich in die Nacht
Will ich mit auf diese Reise?
Wer hält hier bloss die Wacht?
Fehlt hier nicht jene Weise?

Weder Ausblick
noch Rückblick
schenken Überblick

Da sprichts
bricht aus mir
scheu und leise
mit schwankendem, unsich’rem Mund
 
Hineni – hier bin ich. Seht.
wo meine Spur im Wasser steht
Mit kalten Füßen, weichem Grund

Mein Blick erhebt sich, sieht nach Osten
Sucht den Pfad auf alten Posten

Hineni – hier bin ich. Hört.
vom Wind getragen, folgend meiner Sicht
das Wort erhebet sich ungestört
zur Sonne fliegend, bis das Dunkel bricht

Steigend – Sohn zum Vater hin
Mensch zu Gott, seit Zeiten Sinn

Antwort auf den Ruf, der drängt
bejahend, verpflichtend
sich mutig aufwärtsrichtend

Bereit zu gehen
Berufung wahrzunehmen

Doch…

Bin ich bereit?
Will ich soweit?
Kann ich’s ertragen
Kirche in dieser Zeit?

Wasser trägt nicht
Auch mich nicht

Ich sinke –
in die Grube
ins Opferholz

Hineni – hier bin ich. Spürt.
Der Engel eilt, der Himmel rührt
die Hand ergreift
mich hoch er hebt
nur bis zum Rand, wo Atem lebt
nun laden sie mich ein –
nicht zum Tanz
mehr zum Ritt

Die Welle fasst, wirft hinauf
gleitend, springend
schwimmen wir obenauf

Steigen die Gezeiten, wild und weit
sich alles aus den Fugen hebt
dann lockt nicht Halt, nicht Sicherheit
sondern der Geist, der überm Wasser schwebt

Hineni – hier bin ich. Schmeckt.
Salz. Die Woge reisst in die Flut
sich aus dem Chaos Neues weckt
lasst’s uns wagen, voller Mut

Das kraulende Gottesvolk bewegt
sich durch den Strom, der alles trägt,
getrost, vertrauend, staunend
dass, wenn auch die Zeit vergeht
Gott steht’s mit ihm geht

Hineni – hier bin ich. Riecht.
Aufregendes liegt in der Luft

Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit KI-gestützten Werkzeugen. Der Autor hat Inhalte, Struktur und Formulierungen eigenständig konzipiert und redaktionell bearbeitet.

Muss ein Film unterhalten? Ein Deutungsversuch des Filmes Opfer von Andrew Tarkowskij

Photo by Valentin Salja on Unsplash

Der Film ‘Opfer’ von Andrew Tarkowskij ist keine leichte Kost. Dieses Meisterwerk entzieht sich jedem seichten Unterhaltungsanspruch. Der langsame Filmaufbau, die unorthodoxe Erzählweise, das insgesamt Unkommerzielle, ist schwer verdaubar und zugleich tief faszinierend.

Doch um was geht es in diesem Film eigentlich? Dieser Frage will ich hier nachgehen. Auf eine detaillierte Vorstellung der Figuren und Handlung verzichte ich dabei und konzentriere mich allein auf eine mögliche Deutung. Ich setze voraus, dass der Leser den Film gesehen hat.

1.1. Eine Abkehr von der Gewalt?

Ein möglicher Deutungsansatz von Opfer findet sich in der bemerkenswerten Arbeit von Dietmar Regensburger.[1] Er geht von der These aus, dass in «Opfer» darum geht, dass sich die Hauptfigur Alexander Gewalt als Lösungsweg überwindet. Der Film erzählt so die Geschichte, wie Alexander versucht ist, die eingetretene Krise mit einem gewaltsamen (Menschen)Opfer abzuwenden und seiner Bekehrung von dieser Versuchung abzulassen. Regensburger begründet seine These damit, dass er in der Handlungsanalyse des Films bewusste Bezüge zur biblische Geschichte Abrahams zu erkennen glaubt. Konkret gibt es für Regensburger eine ständige Andeutung auf Alexanders Bereitschaft, seinen Sohn «Jungchen» zu opfern, um die drohende Katastrophe abzuwenden. Eine erste Andeutung darauf sieht Regensburger in der ersten Traumsequenz:

Beide fallen ins Gras, dabei ertönt ein Donnergeräusch, sie rappeln sich hoch. Jungchen blutet aus der Nase. Aus dem Off ertönt Alexanders verstörte Stimme: “Junge! Mein Junge! Herrgott, was ist mit dir los?” Die nächste Einstellung zeigt den schwankenden Alexander, der ohnmächtig ins Gras sinkt. Es folgt ein Schnitt, die erste Traumsequenz wird eingeblendet: Blicke in eine menschenleere Straßenschlucht, ein umgekipptes Autowrack — verstörende Schwarz-Weiß-Bilder der Verwüstung; das letzte Bild zeigt eine schmutzige Scheibe, in der sich Häuser spiegeln, entlang der Scheibe rinnt Blut herab. Hier blitzt die drohende — “uralte” — Antwort zur Lösung einer fundamentalen Krise schon Anfang Haft auf: die eines Menschenopfers.[2]

Eindeutiger werden die Bezüge nach der eingetretenen Katastrophe. Nach der Verkündigung der drohenden Katastrophe macht sich Alexander mit dem Revolver auf ins Zimmer von Jungchen. Erst nachdem er sich von Jungchen abwendet, folgt das Gebet des „Vater Unsers“ und das Gelöbnis an Gott. Auch die in der darauffolgenden Traumszene erblickten nackten Kinderfüße im Schnee und Alexanders Aufschrei deutet Regensburger als weiteren Verweis auf die drohende Opferhandlung. Die vermauerte Tür in derselben Sequenz stellt hingegen ein Warnzeichen für Alexander dar, diesen uralten Ausweg eines gewaltvollen Opfers nicht zu wählen. Trotz dieses Warnzeichens ist Alexander noch nicht bereit, gänzlich auf ein gewaltsames Opfer zu verzichten. Auch auf seinem Gang zu Maria nimmt er den Revolver mit. Erst hier, in den Armen von Maria sei Alexander bereit, endlich von der Versuchung zu einem gewaltsamen Opfer abzulassen. Hinweise auf diese Bekehrung sieht Regensburger in der darauffolgenden Traumszene:

Am Ende der hier eingefügten Traumsequenz, die wiederum düstere Schwarz-Weiß-Bilder der Verwüstung zeigt, stammelt er verstört auf die Frage seiner Frau: “Wer hat dich so erschreckt? Alexander!” scheinbar kontextlos “Mama?”. Wo Marias Frage nach der Mutter noch ins Leere ging, kann Alexander sich — von eigenem Leid absehend — nun endlich auf andere Menschen hin öffnen, hier auf seine Mutter hin. Die in der Geschichte mit dem Garten schon vorsichtig angedeuteten unbewältigten Schuldgefühle scheint er jetzt erstmals zulassen zu können. Ein Zulassen und Eingestehen von eigener Schuld und Verblendung ist immer der erste Schritt zu einer Umkehr. Diese Umkehr vollzieht sich in der Folge auch auf der Ebene des Opfers: Alexander läßt endlich von der Versuchung zu einem gewaltsamen Opfer — sei es nun in der Hingabe seines Sohnes oder der seines eigenen Lebens — ab.[3]

Die Deutung Regensburgers, dass Tarkowskij die Opferthematik so behandelt, dass er mit Bezügen auf Abraham die Abwendung von Alexander von einem gewaltsamen Opfer illustriert, präsentiert uns eine stimmige Auslegung. Insbesondere die auf den ersten Blick kontextlosen und verwirrenden Traumsequenzen bekommen in dieser Deutung eine sinnvolle Auslegung und reihen sich so gut in ein gesamtes Gefüge ein. Ebenso erhält Jungchen, dessen Nebenrolle vordergründig kaum eine entscheidende Position in der Handlung einnimmt, in dieser Deutung eine zentrale und stimmige Schlüsselposition in der Gesamtnarration. Doch insbesondere die zentrale Schlusssequenz der Handlung, in welcher Alexander das Haus abbrennt, wirft Fragen zur These von Regensburger auf. Denn gerade die Schlusssequenz ist die gewaltigste Szene des ganzen Filmes. Dieser Gewaltakt des verbrennenden Hauses war Tarkowskij besonders wichtig. In einem ersten Durchgang wurde der Brand auf Grund eines Kamarafehlers nicht gefilmt. Tarkowskij war zu keinen Kompromissen bereit und bestand darauf, dass die Szene, trotz immensem finanziellen Mehraufwand, nochmals gefilmt werden musste.[4] Regensberger erklärt diese letzte Hinwendung von Alexander zur Gewalt dadurch, dass Alexanders Bekehrung nur partiell war. Trotz seines Erlebnisses mit Maria fühlte er sich verpflichtet, sein ,Gelübde’ einzulösen und entsprechend sein geliebtes Haus zu verbrennen. So interpretierte Regensberger, dass Trakowskijs mit der Schlusssequenz die gleichzeitige Faszination und Absurdität dieses gewaltsamen Opferrituals aufzeigen will:

Faszinierend ist es, weil das Opfer gemäß Ottos Diktion wirklich ein wertvolles ist und weil die Brandszene in einer minutenlangen Einstellung sehr eindrucksvoll dargestellt wird. Absurd erscheint das Opfer durch die theatralischen Gesten Alexanders, die die Zerstörung des Hauses umrahmen. (…) Und als dann der Krankenwagen kommt, um den “Verrückten” abzuholen, dekonstruiert Tarkowskij jegliches Pathos durch Szenen mit einem fast slapstickartig anmutenden Hin-und-Her-Gezerre zwischen Alexander, seiner Familie und den beiden Wärtern.[5]

In dieser Auslegung ist Alexander ein gescheiteter Held. Letztlich gelingt es ihm nicht, auf ein Gewaltopfer zu verzichten und die Schlusssequenz zeigt monumental die traurige und absurde Folge dieser gescheiterten Bekehrung. Doch ist diese Auslegung, insbesondere die Schlusssequenz, mit dem Denken und der Absicht von Tarkowskij vereinbar? Oder gibt es eine stimmigere Interpretation?

1.2. Oder vielmehr eine Absage an den westlichen Materialismus?

Nach Jonson und Petrie ist das dominante Thema in Tarkowskij Werk der Konflikt zwischen zwei Welten:

“one external, materialistic, historical, violent, destructive, ´real`; the other internal, spiritual, atemporal, peaceful, hopeful, and usually given a transcendent quality by means of dream, hallucination, or inner vision”[6]

Diese zwei Weltansichten werden in Film ‚Opfer‘ insbesondere durch die Hauptfigur Alexander und dessen Frau Adelaide verkörpert. Alexander erklärt Jungchen schon ganz zu Beginn des Films im Kiefernhain, dass der technische Fortschritt des Menschen immer nur zu allen möglichen Bequemlichkeiten und verbessertem Lebensstandard führt. Genau in diesem Streben nach Materialismus sieht Alexander das Instrument der Gewalt, um die Macht zu erhalten. Der westliche Lebensstandard verkörpert für Alexander die Schuld der Menschheit: „Und was den Lebensstandard betrifft, so hat ein kluger Mensch gesagt, Sünde sei das, was nicht notwendig ist…“[7]. Adelaide kann diese ablehnende Haltung ihres Mannes gegenüber allem Materiellen nicht mit ihm teilen. Im Gegenteil: zu tiefst trauert sie der vergangenen Zeit in London nach, und empfindet die neue Lebenssituation in der Zurückgezogenheit, fernab vom Erfolg, belastend.

Erst hat er mich verlockt mit seinem Theater, dann hat er mich aus London weggeschleppt und mich im Stich gelassen. Und ich hatte dennoch Spaß daran, die Frau eines berühmten Schauspielers zu sein, und ich kann, verzeiht mir, nichts Falsches darin sehen.[8]

Gerade der unterschiedliche Umgang mit der Katastrophe illustriert diesen Konflikt des Ehepaars. Adelaide sieht sich als passives Opfer der Katastrophe. Mit der Aussicht, auch noch den restlichen Besitz zu verlieren, erleidet sie einen völligen Zusammenbruch. Ganz anders Alexander: er sieht in der Katastrophe die Chance, sich als aktives Opfer darzubringen und so den Egoismus der materiellen Welt zu überwinden. Auf diesen Moment hat er sein Leben lang gewartet.[9] In dieser Betrachtungsweise stellt der Beischlaf von Alexander mit Maria den endgültigen (Ehe)Bruch mit Adelaide dar. Er wendet sich von seiner Ehefrau und somit vom westlichen Materialismus, den er, wie die Geschichte vom Garten seiner Mutter zeigt, als scheußliche Gewalt ansieht, endgültig ab.

Diese Abwendung vom Materialismus wird noch mehr verdeutlicht, wenn man sich der Frage zuwendet, welcher Teil vom Film Traum ist und was Realität. Im Kiefernhain sehnt sich Alexanderx im Angesicht der globalen Schuld der Menschheit aus der Passivität, ja aus dem Konsum auszubrechen und zu handeln. „Wenn es nur jemanden gäbe, der aufhören würde mit dem Reden und stattdessen endlich etwas tun würde!“ Genau auf diesen Ausspruch folgend, springt Jungchen Alexander an, welcher darauf zusammenbricht und in die erste Traumsequenz eintaucht. Nach Keutzer[10] könnte dies der Beginn des Traumes sein, aus welchem Alexander erst wieder nach dem Besuch bei Maria erwacht. Dies würde bedeuten, dass die Mehrheit des Filmes, ja die ganze Geburtstagsfeier und auch die sich ereignende nukleare Katastrophe von Alexander nur geträumt werden. Die Farbgestaltung des Filmes würde solch eine Deutung unterstützen. Ab der ersten Traumsequenz werden die Farben immer mehr entsättigt, was auf eine veränderte Realitätswahrnehmung verweisen könnte. Die Realität würde so im Film in der Naturszenerie stattfinden. Die zivilisierte Umgebung des Hauses würde dagegen reine Traumwelt darstellen. Gerade das, was im Westen als wirklich und wichtig angesehen wird und möglicher Mittelpunkt unserer materiellen Orientierung ist, das Eigenheim, wäre so nichts mehr als geträumte Illusion. Dazu Tarkowskij:

Der Raum, in dem sich derjenige bewegt, der bereit ist, alles zu opfern, ja sich selbst als Opfer darzubringen, stellt eine Art Gegenbild dar zu unseren empirischen Erfahungsräumen, ist deshalb aber nicht weniger wirklich.[11]

Mit der Interpretation, dass alles ab dem ersten Sturz von Alexander einen Traum darstellt, wird die Schlusssequenz in ein viel radikaleres und insbesondere für die Mitmenschen von Alexander unverständlicheres Licht gerückt. So würde Alexander nach dem Sturz am nächsten Morgen erwachen. Sein Geburtstag hätte er im bewusstlosen Zustand verbracht. Die Geschehnisse im Traum, insbesondere die Abwendung der Katastrophe, wäre so für Alexander nicht Begründung für sein Opfer, sondern viel mehr Katalysator und Entscheidungsfindungsprozess. Alexander war sich schon vor der Katastrophe einer Schuld bewusst. Nicht nur der persönlichen, vielmehr einer globalen, die ganze Menschheit betreffenden Schuld. Durch die (ev. geträumten) Ereignisse ist ihm bewusstgeworden, was die Konsequenz ist, wenn niemand aufsteht und einen anderen Weg einschlägt. Alexander hat durch diesen Prozess die Kraft gefunden, den Weg, den er bereits mit dem Verlassen seiner Schauspielkarriere und dem Umzug auf die abgeschiedene Insel eingeschlagen hat, vollends zu beenden und dem westlichen Materialismus endgültig zu entsagen. So gesehen ist der letzte gewaltige Akt von Alexander, das In-Brand-setzen seines Hauses, keine gescheiterte Bekehrung, sondern Höhepunkt seines Weges und Einlösung seines Gelöbnisses: der endgültige Ausstieg aus allem Materialismus und egoistischem Erfolgsstreben. Diese Überlegungen steht im Einklang mit Tarkowskij eigenen Überlegungen zum Film:

Der Held meines nächsten Filmes „Die Opferung“ wird ebenfalls ein schwacher Mensch im ganzen gewöhnlichen Sinne des Wortes sein. Er ist kein Held, aber ein denkender, aufrichtiger Mensch, der sich für seine höchsten Ideale zu opfern vermag. Als es die Situation erfordert, weicht er der Verantwortung nicht aus, versucht nicht etwa, sie anderen aufzubürden. Er riskiert dabei das Unverständnis seiner Nächsten, handelt aber dennoch nicht nur entschieden, sondern geradezu voller zerstörerischer Verzweiflung. Obwohl er weiss, dass er sich damit den Ruf eines Wahnsinnigen zuziehen kann, überschreitet er die Schwelle „zulässigen“ und „normalen“ menschlichen Verhaltens, um seine Zugehörigkeit zum Ganzen spüren zu können, zum Schicksal der Welt, wenn man so will. Bei all dem erfüllt er lediglich gehorsam die Mission seines Herzens, ist also gar nicht Herr, sondern nur Diener seines Schicksals. Seine Anstrengungen wird möglicherweise niemand bemerken, doch gerade auf ihnen basiert die Harmonie unserer Welt.[12]

Durch solch eine Interpretation würde die Opferthematik im vorliegenden Film nicht in dem Sinne behandelt, dass Alexander sich von einem gewaltsamen Opfer abwendet hin zu einem gewaltlosen Opfer, dabei aber scheitert. Vielmehr würde die Opferthematik dadurch ausgedrückt, dass die Selbstopferung eine radikale Gegenposition zur Selbstdarstellung, Selbsterhaltung, und Selbstoptimierung einnimmt. Die westliche Welt stellt das Selbst in den Mittelpunkt. Durch diesen Trieb zum Selbsterhalt fokussiert sich alles auf das Materielle. Ja, die Welt wird von der Menschheit materiell ausgesaugt. Dagegen setzt Tarkowskij einen bewussten Gegenpol. Das Selbstopfer in seiner Geistlichkeit geht dem Natürlichen und somit materiellen Selbsterhalt diametral entgegen: „Meiner Meinung nach war Kunst immer eine Waffe im Kampf des Menschen gegen die Materie, die seinen Geist zu verschlingen droht.“[13]

Beide hier vorgestellten Darstellungen der Opferthematik bringen ihre Stimmigkeiten mit und lassen zugleich andere Aspekte ungeklärt. Während sich die hier erarbeitete Auslegung womöglich stimmiger in die Weltsicht von Tarkowskij einbettet, wird die Rolle von Jungchen bei Regensburger viel sinnhafter und prominenter ausgelegt. Dass der Film zu verschiedenen Interpretationen führt, ist dabei ganz im Sinne Tarkowskij:

“Der parabelhaften Form entsprechend läßt alles, was im OPFER geschieht, ohnehin eine Reihe von Deutungen zu. Es gibt mehrere unterschiedliche Lesarten, und dies liegt durchaus in meiner Absicht — ich will keinem eine bestimmte Lösung aufdrängen, habe von dem Ganzen natürlich meine eigene Auffassung. Eine auf Eindeutigkeit angelegte Interpretation jedenfalls liefe der inneren Struktur meines Films zuwider.”[14]

Dieser Text wurde eigenständig vom Autor verfasst, ohne Einsatz von KI.

Literaturverzeichnis

[1] Vgl. REGENSBURGER Lüge (2002): https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/213.html

[2] REGENSBURGER Lüge (2002): https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/213.html

[3] REGENSBURGER Lüge (2002): https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/213.html

[4] TARKOWSKIJ Filmbuch (1987): 227f

[5] REGENSBURGER Lüge (2002): https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/213.html

[6] JONSHOHN & PETRIE Fugue (1994): 238.

[7] TARKOWSKIJ Filmbuch (1987): 60

[8] TARKOWSKIJ Filmbuch (1987): 73

[9] Vgl. GOLTERMANN Opfer! (2018): 29. Goltermann sieht in diesen verschieden Opferhaltungen die Wandlung des Opferbegriffs in der Geschichte. „Bis ins späte 19. Jahrhundert war fast ausschließlich der aktive Opferbegriff präsent (…) Erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts verlor das „Opfer für etwas“ an Bedeutung. Die Rede, ein „Opfer von etwas“ geworden zu sein, nahm dann, vor allem im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, allmählich zu.

[10] KEUTZER Essay (2018) http://www.ikonenmagazin.de/rezension/Opfer.htm

[11] TARKOWSKIJ Filmbuch (1987): 177.

[12] TARKOWSKIJ Versiegelte Zeit (1984): 243f.

[13] TARKOWSKIJ Versiegelte Zeit (1984): 247.

[14] TARKOWSKIJ Filmbuch (1987): 181f.